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RANDBEMERKUNGEN.
Marc Räders Fotoserien »Californication« und »Californication extended/revisited«. Eine Einführung in Marc Räders Werkreihe »Californication«, anlässlich der Ausstellung in der TZR Galerie Kai Brückner, Düsseldorf, 4. Februar 2012.

"Everything worth photographing is in California," schrieb Edward Weston einst. Mit diesem Satz formulierte der für seine Landschafts- und Naturaufnahmen bekannt gewordene Vertreter der Straight Photography – wir befinden uns hier, in Düsseldorf, in einer Werbestadt – das, was man wohl einen starken claim nennen kann: »Alles, was sich zu fotografieren lohnt, findet man in Kalifornien.«

Blicke in die Fotogeschichte dürften diesen Satz als eine Tatsachenbehauptung belegen: Denn wie wohl keine zweite wurde die kalifornische Landschaft seit Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert und ihrer bald einsetzenden Popularisierung durch Kleinbildkameras in Lichtbildern festgehalten, dokumentiert, inszeniert.

Nicht wenige von diesen Bildern verwandelten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Ikonen, sie wurden zu Vorbildern auch für das, was die vielen ihnen folgenden Blicke in diesem aus Bildern zusammengesetzten Kalifornien immer wieder und immer neu und anders zu sehen suchen.

Tatsächlich war es die Fotografie, die vor dem Hollywood zugesprochenen Film noch das Bild bestimmte, das sich in der Welt von dem westlichsten der US-amerikanischen Bundesstaaten am Rand des Pazifiks verbreitete, der in so vielen Bildern wie kein zweiter und wie kein zweiter als ein Bild konstruiert erscheint.

Einem ihrer 1939 aufgenommenen Fotos gab die Fotografin Dorothea Lange folgenden Begleittext:

"Large-scale agriculture. Gang labor, Mexican and white from the Southwest. Pull, clean, tie, and crate carrots fort he eastern market for 11 c[ents] per crate of 48 bunches. Many can make bareley $ 1 a day. Heavy over supply of labor and competition for jobs is keen."

Auf dem Bild, das die Fotografin in Kalifornien im Auftrag der FSA zu Zeiten der Depression machte, ist ein Karottenfeld im südkalifornischen Imperial Valley zu sehen. Lohnarbeiter in Reihen, aus der Distanz aufgenommen, den Horizont bildet in der Ferne eine Bergkette. Eine Landschaftsaufnahme. Ein Zeitdokument von Land und Leuten, ein Anblick von früher industrieller Landwirtschaft. Fotografisches Abbild einer Haltung zur Arbeit und der Macht der Bilder, fotografische Aussage eines Standpunkts zu Macht über das Land und zu Bildern als der eigenen Arbeit.

Mit der Natur eins zu werden und die Dinge in ihrer Eigenheit kenntlich erfahren zu lassen, so die Wahrhaftigkeit in der von künstlichen Schleiern überzogenen Natur sichtbar werden und dabei den eigenen Ausdruckswillen zurücktreten zu lassen. So lauten, seinen eigenen Worten zufolge, die erklärten Ziele, die der zum gleichen Zeitraum bereits als Porträtist Kaliforniens zu Ruhm gekommene Edward Weston als Vorgaben für die eigenen fotografischen Lichtbild-Gestaltungen ausgab:

"I am not trying to express myself through photography, impose my personality upon nature (any manifestation of life) but without prejudice nor falsification to become identified with nature, to know things in their very essence, so that what I record is not an interpretation—my idea of what nature should be—but a revelation or a piercing of the smoke-screen artificially cast over life by irrelevant, humanly limited exigencies, into an absolute, impersonal recognition."

Mit diesen Aussagen von Dorothea Lange und Edward Weston finden sich die beiden Pole bezeichnet, in deren Spannung zueinander man Marc Räders Fotografien von kalifornischen Landschaften situieren kann. Von visueller Schönheit gezeichnet, Abbildungen des Naturschönen, sind die Bilder, die Räder zu seinen Serien Californication beziehungsweise Californication extended/revisited zusammenfasste, denn zugleich auch als Dokumente jener shaping power of the land zu betrachten, von der Dorothea Lange einmal sprach.

Dass unentschieden bleibt und aus den Bildern nicht einfach herauszulesen ist, welche beider Positionen sie näher stehen, erscheint als besondere Qualität und Herausforderung an den Blick, den sie treffen. Sie vermitteln weder eine über-zeitliche Ansicht der Natur, eines Kaliforniens als zweiten Garten Eden. Noch lassen sie sich einer einfachen Aussageagenda untergeordnet sehen, auch wenn der flüchtige Blick in Räders Siedlungsbildern, seinen Scan Scapes, sozio-historische Aufnahmen erblicken kann. Doch da ist beides auf ihnen: Totalität und Partikularismus, Ganzheitlichkeit und Arbeitsteilung.

Marc Räders Fotografien kann man als Reisebilder sehen, als Bilder von Aufenthalten, und sie sind doch erkennbar mehr als touristische Schnappschüsse oder fotojournalistisch kalkulierte Aufnahmen, wie sie sich als Dutzendware in den Datenbanken der Bildagenturen oder als immer gleiche in den digitalen Diakästen von Hobbyfotografen weggeordnet finden. Räder ist in Kalifornien wenn nicht daheim, so doch an dem Ort, mit dem sich für ihn Lebensgeschichten verbinden. In den frühen achtziger Jahren hatte er als Austauschschüler eine Highschool in Nordkalifornien besucht, kehrt nach einem Studium am College of Arts and Crafts in Oakland in den Neunzigern dorthin in regelmäßigen Abständen zurück, um dort Zeit zu verbringen – wie gerade erst im November als Resident am Montalvo Arts Center in der Nähe von Santa Cruz, wo er sich von November an zwei Monate aufhielt. In den Jahren 1994–96 entstand während mehrerer Aufenthalte bereits die Reihe Scanscapes, gefolgt von den Bildserien Californication (2004/05) beziehungsweise Californication extended/revisited von 2009. Die in der gegenwärtigen Ausstellung zu sehenden Bilder stammen aus diesen drei Serien, zeigen Räders langfristig angelegte Auseinandersetzung mit dem Bild Kaliforniens und seiner kalifornischer Landschaften.

War Edward Weston seinerzeit noch des Vorwurfs eines „nature faking“ ausgesetzt gewesen, nachdem er einen seiner fotografierten Gegenstände erkennbar umplatziert und buchstäblich in ein besseres Licht gesetzt hatte, und verschrieb sich Lange demonstrativ dem Credo, die von ihr gesehene Wirklichkeit unter allen Umständen unmanipuliert zu dokumentieren, so war es doch immer schon nichts mehr als Versprechen, was die Fotografie von Anfang an so wirkmächtig erscheinen lässt: eine Referenz zur Wirklichkeit zu besitzen und zu behaupten. Wer sie ganz hingegen allgemein als ein Abbildungsmedium einer Realität sehen will, kann sich auch von Räders analogen Aufnahmen leicht getäuscht vorkommen: gerade seine Scan Scapes-Serie lässt ‚die Wirklichkeit’ wie nachgebaut wirken. Auf den Räders Arbeit gegenwärtig dominierenden Landschaftsaufnahmen ist hingegen ein etwas anderer Effekt zu beobachten, den die als Tilt and Shift bezeichnete Aufnahmepraxis erzeugt, welche Räder als erstem Fotograf zum Markenzeichen – seinem visual hallmark – wurde. Die Bilder von Stränden, Waldstücken und Brachland hinterlassen auf diesen jüngeren Aufnahmen nicht so sehr den Eindruck, detailgetreu gebaute Spielzeuglandschaften, Modelleisenbahnanlagen und Architekturmodelle zu betrachten oder es mit nachträglich digital bearbeiteten Bildern zu tun zu haben, die die behauptete Künstlichkeit einer konstruierten Wirklichkeit in demonstrativer Schönheit widerspiegeln lassen.

Räders Landschaftsaufnahmen machen es dabei gerade nicht ganz so einfach wie seine Architektur­bilder, ihnen einen Standpunkt zuzuordnen. Man kann an ihnen eine Wegbewegung von der thematischen Einfassung beobachten, die die Scan Scapes zur Serie machte, wobei sie doch als eine Fortsetzung der Mitte der Neunziger Jahre in Südkalifornien entstandenen Serie mit Aufnahmen von so genannten Gated Communities, jene von Zäunen umschlossenenen privaten Wohnanlagen erscheinen, die ein europäisch-kritischer Blick gern als Wohlstandsghettos verdammt. Wird ein Bild von Natur ins Szene gesetzt, ergeben sich andere verfremdende Effekte als in der Baulandschaft-Serie, die Räders Bekanntheit begründete. Auch in seinen Naturszenen führt das Verhältnis von Schärfe und Unschärfe zu einer notwendigen Fokalisierung des Blicks auf der teilweise undurchdringlichen Bildoberfläche, lässt die Hyperpräsenz des Realen sichtbar werden. Den Miniaturisierungseindruck der von Architekturen bestandenen Bilder lassen sie nun nachträglich als einen doch eigentlich ganz vordergründigen – und deswegen von so vielen Fotografen bis in die Werbung entsprechend gern kopierten – Bildeffekt erscheinen. Die Landschaftsszenen erzeugen beim Betrachten eine andere Art der Befremdung, eine, die über den Anschein blendender Wirklichkeitssimulation hinausgeht, die Räders Bildtechnik schließlich in Werbungszusammenhängen popularisieren half.

In anderer Weise nämlich unterlaufen die Landschaftsaufnahmen die Wirklichkeitsabbildungs­versprechen, die die Fotografie als Medium weiterhin aller Infragestellungen zum Trotz weckt und erneuert – wie auch eine gängige Unterscheidung zwischen Abstraktion und Konkretem. Wenn Landschaftsbilder von diesem kulturgeschichtlich weit und doch eben nicht weiter als bis in den April 1336 zurückreichenden Versprechen eine Anschauung vermitteln, zeigen sie zugleich, in welcher Weise das vermeintliche Subjekt im Moment des Betrachtens immer schon von Vorbildern und ihren Beschriftungen zu einem Objekt von Vorannahmen und Prä-Texten gemacht worden ist. Gerade Räders Bilder von so genannter ‚Natur’ können daran erinnern, dass dies schon in den Frühtagen der populären Fotografie so gewesen ist. So beschreibt ein Historiker die mit Kameras ausgestatteten Besucher der kalifornischen Wilderness zu Beginn des 20. Jahrhunderts – noch vor Einrichtung der ersten Nationalparks, als Bildsucher, die dort vorab vervielfältigte Vorbilder erwarteten:

They were not impressed by wilderness itself. They looked instead for the unique, the spectacular, or the sublime, drawing their standards from stereoscopic views, picture postcards, railroad advertising, magazine illustrations, Romantic literature and landscape art. Scenic beauty was an art form, and its inspiration a preconditioned experience.

Verortet man sie fotohistorisch, kann man meinen, als träfen in Räders Aufnahmen Bildästhetiken der Picturalisten – jener kurzlebigen Bildbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die Schleier auf ihre Bilder legten und von der Straight Photography abgelöst wurde – und die des New Topography-Movements aufeinander, besonders der Bilder eines Lewis Baltz, die mit der Ausstellung New Topographics: Photographs of a Man-Altered Landscape am George Eastman House 1975 für Furore sorgten.

So kann man in Räders Bildern auch Anspielungen nicht nur auf fotografische Vorbilder, Referenzen an konzeptuelle Positionen entdecken, die den Blick des Fotografen informieren. Um nur eine einzige Assoziation zu nennen: Das auf einem der Fotos am Grenzzaun zwischen den U.S.A. und Mexiko befestigte Werbeplakat erscheint darauf als eines ins Bild genommen, das auf die vielen der auf Dorothea Langes Bildern dokumentierten und deren Aussagen im Wechselspiel der Lektüre von Schrift und Bild bestimmenden Poster und Werbebanner zu sehen sind. Ob wahrgenommen oder ungesehen, ob intendiert oder zufällig, zahlreiche andere Verweise wie dieser können als Hinweis dienen, dass ein jedes Bild auch ein Nachbild ist und in einer Bildergeschichte seinen Platz angewiesen einnimmt. In den Bildern steckt Geschichte, die des Mediums wie der Motive. Darin sind sie der Landschaft ähnlich.

„Der Mangel der amerikanischen Landschaft ist nicht sowohl, wie die romantische Illusion es möchte, die Absenz historischer Erinnerungen, als daß in ihr die Hand kein Spur hinterlassen hat.“ In einem der Einträge in seinen im Exil der Dreißiger Jahre in Südkalifornien entstandenen Vignetten, denen er den Titel Minima Moralia gab, spricht Theodor W. Adorno das Verhältnis von Landschaft und Geschichte an. Spurlosigkeit bedeutet Geschichtslosigkeit, die Landschaft als unbearbeitete ist eigentlich keine Landschaft. Den dieser attestierten Mangel bezieht Adorno nicht nur auf das „Fehlen von Äckern, die ungerodeten und oft buschwerkhaft niedrigen Wälder“, sondern „vor allem auf die Straßen.“ Unvermittelt in die Landschaft gesprengt, tragen diese keinen Ausdruck, so Adorno weiter, besitzen „keine weichen Fußwege an ihrem Rande entlang als Übergang zur Vegetation“, keine Seitenpfade ins Tal hinunter. So entraten sie nach Ansicht Adornos „des Milden, Sänftigenden, Uneckigen von Dingen, an denen Hände oder deren unmittelbare Werkzeuge das ihre getan haben. Es ist. Als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren.“ Räders Bilder, die die andernorts von Adorno in der Minima Moralia geforderten „Schründe und Risse“ in der Landschaft sowohl motivisch wie auch als bildtechnisch vorzeigen, sind als bild-gewordener Widerspruch zu Adornos Aussage auch erkennbar Ausdruck einer ausgeprägten Faszination für Ränder, Ufer, Kanten – für Stellen, an denen Statik auf Bewegung trifft, für die Übergangszonen, die Zeitlichkeit im Kommen und Vergehen präsent machen. Für die Treffpunkte von Schärfe und Verunklarung, an denen sich das Auge seines Sehens zu versichern hat – um von einem Moment zum nächsten sich neu besinnen zu müssen.

Gerade diese Übergänge, die gar nicht so unvermittelt erscheinen, wie es die Behauptung Adornos will, finden sich Räders Bildern wieder: als ineinander übergehende Zonen von Vegetation und Bauland, beides künstlich inszeniert. Als Reifenspuren auf einem Strandabschnitt, die sich palimpsesthaft für eine Weile abzeichnen und auf Zeit eingeschrieben haben wie die Abdrücke, die eine einsame Fußgängerin andernorts hinterlassen hat. Gischt, die eine Verbindung zwischen dem Festen und dem Bewegten – den in den Pazifik ragenden Felsformationen und dem unaufhörlich gegen sie schlagenden Wellen des Meeres. Brücken. Stromleitungen. Parkplatzmarkierungen. Bäume, deren Stämme hoch in den Himmel ragen, aus dem in anderen Bildern das Licht hinunterfällt, das in Kalifornien von Fotografen als so besonders geschätzt wird und als Eindruck von Einzigartigkeit aus den Bildern tritt. Räders Bilder zeigen genau jene Spuren, die die kalifornische Landschaft trägt und als historisch markiert, erweisen sie auch als alles andere als „ungetröstet und trostlos“, wie Adorno meinte, und auch nicht ahistorisch, nicht überzeitlich. Als Produkte von einem, der innehält, um den Moment festzuhalten, zeigen die Farbaufnahmen des Fotografen mit seinem Wahrnehmungsapparat als der von Hand bedienten Großbildkamera als körperlicher Extension Adornos Wahrnehmungen als Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die sich mit den seinerzeit bereits buch-gewordenen Wahrnehmungen der Landschaft unvertraut zeigten. Sie kommentieren, nachträglich, den mit Worten erhobenen Anspruch, über die Landschaft zu befinden.

Gerade diese Übergänge, die gar nicht so unvermittelt erscheinen, wie es die Behauptung Adornos will, finden sich Räders Bildern wieder: als ineinander übergehende Zonen von Vegetation und Bauland, beides künstlich inszeniert. Als Reifenspuren auf einem Strandabschnitt, die sich palimpsesthaft für eine Weile abzeichnen und auf Zeit eingeschrieben haben wie die Abdrücke, die eine einsame Fußgängerin andernorts hinterlassen hat. Gischt, die eine Verbindung zwischen dem Festen und dem Bewegten – den in den Pazifik ragenden Felsformationen und dem unaufhörlich gegen sie schlagenden Wellen des Meeres. Brücken. Stromleitungen. Parkplatzmarkierungen. Bäume, deren Stämme hoch in den Himmel ragen, aus dem in anderen Bildern das Licht hinunterfällt, das in Kalifornien von Fotografen als so besonders geschätzt wird und als Eindruck von Einzigartigkeit aus den Bildern tritt. Räders Bilder zeigen genau jene Spuren, die die kalifornische Landschaft trägt und als historisch markiert, erweisen sie auch als alles andere als „ungetröstet und trostlos“, wie Adorno meinte, und auch nicht ahistorisch, nicht überzeitlich. Als Produkte von einem, der innehält, um den Moment festzuhalten, zeigen die Farbaufnahmen des Fotografen mit seinem Wahrnehmungsapparat als der von Hand bedienten Großbildkamera als körperlicher Extension Adornos Wahrnehmungen als Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die sich mit den seinerzeit bereits buch-gewordenen Wahrnehmungen der Landschaft unvertraut zeigten. Sie kommentieren, nachträglich, den mit Worten erhobenen Anspruch, über die Landschaft zu befinden.

Wenn Räder zeigt, überall seine Ansichten des Landes zu finden, dann gerade am Wegesrand entlang der so genannten Landstraßen. Die meisten seiner Fotografien entstanden entlang des kalifornischen Küstenstreifens – von den schroffen Klippen des Nordens und bis hin zum Sperrzaun im Süden an der Grenze zu Mexiko. Ausflüge ins Inland und die Gebirgsregionen sind selten. Auf vielen der Bilder jüngeren Datum ist Wasser zu sehen: oft der Pazifik und seine Brandung. Das mag kein Zufall sein. Räders Bild von Kalifornien, so jedenfalls zeigt es sich auf aktuelleren Fotos, besteht nicht aus Ansichten des agraindustriell geprägten und seit nunmehr zwei Jahrzehnten zunehmend von urban sprawl überzogene San Joaquin Valley, nicht aus Industriestadtorten oder jenen Arbeiterstädten, wo sich in der Zeit der Great Depression die Flüchtlinge aus dem Dust Bowl niederließen – Bakersfield beispielweise oder Oildale. Nicht die Nationalparks wie Yosemite oder Sequoia mit ihren so unendliche Male vervielfältigten monumentaler Panoramaansichten findet man auf Räders Bildern. Auch nicht die Wüstengegenden, wo in den Sommermonaten die meist gehörten Sprache die der Touristen aus Deutschland ist. Vermeidet er so die Ästhetisierung der als banal oder gar hässlich gern verborgenen Seite des Golden State, geraten seine abseits der Urlauberrouten entstandenen Bilder anders und eigen, wenn sie Natur als gemachte zeigen, und konkurrieren nicht mit den Postkartenansichten.

In Räders belichteten kalifornische Landschaften finden sich – wenn auch nicht auf den ersten Blick – die zwei Seiten des Landes: die des Optimismus und die des Pessimismus, die eines California Dreamin’ und eines lebbaren Utopismus wie die eines Noir und mehr noch eines Farewell Promised Land, dem melancholisch-zornigen Abgesang auf einen als golden imaginiertes Land der Versprechungen.

Noch ein Heizkraftwerk, noch eine die Ansammlung im Stau stehenden Autos oder eine in Buschwerk gesetzte Brücke bekommen auf Räders Bildern einen pittoresken Anstrich. Wie nachträglich wird der Schein-Banalität eine Aura verliehen, künstlich geschaffen im Bild. Doch versöhnt geben sich die Bilder dabei nie, blendend widerstehen sie letztlich den Sentimentalisierungen oder einer Verklärung der Landschaft als unberührt und unberührbar.

Noch ein grüner Hügel auf einem von Räders Fotos lässt fragen, wo das nächste Betonband die Landschaft durchschneidet, die nächste Oberleitung Verbindungen schafft, das nächste Aquädukt als Ingenieurleistung bewundert und als Störfaktor in gern als unberührt gesehener Natur zu finden sein mag. Denn nie lassen Räders Bilder die jenseits des Bildrandes zu findenden anderen Seiten vergessen. So wie Reyner Banham in seinem legendären Standardwerk Buch Los Angeles-The Architecture of Four Ecologies aus den frühen Siebziger Jahren, worin er sich ausführlich der Surf-Kultur widmet, um unmittelbar im Anschluss detaillierte Beschreibungen von Raffinerien entlang der Strände im Großraum Los Angeles folgen zu lassen, so dass man auf nur wenigen Seiten vom direkten Nebeneinander von Freizeitkultur und Industriestandort in der Landschaft lesen kann.

Räders Bilder zeigen eine Offenheit, lassen dem nachschauenden und ihnen eigene Ansichten hinzufügenden Blick Raum: lassen es zu, nachträglich in der Betrachtung die erwähnten „Risse und Schründe“ hinzuzufügen, die jenes sloganhafte ‚Go West’ immer schon begleitet haben und Kaliforniens Identität als eine gespaltene, von Aufrissen bestimmte, von Rändern und Verwerfungen bestimmte Utopie prägten. Der Rand des Landes, der Welt, wie es im Song „Californication“ der Red Hot Chilli Peppers aus dem Jahr der Jahrtausendwende heißt, den Räder als den Titel für seine Bild-Serien übernahm: „It’s the edge of the World / And all of Western Civilization / The Sun may rise in the East /At least it’s settled in a final Location.“

In seinem Buch The Machine in the Garden beschrieb Leo Marx das Verschwinden der amerikanischen Landschaft als eine Geschichte des „Verlusts“. Das Idealbild einer idyllischen oder bukolischen Landschaft – Amerika als ein zweiter Garten Eden – sei, so Marx Feststellung in der Zeit nach dem Höhepunkt des ungebremsten wirtschaftlichen Wachstums in den USA, unwiderbringlich verloren gegangen. Der technische Fortschrift habe die Landschaft in der Realität unumkehrbar verwandelt, als vorgeblich ‚natürliche’, ‚unberührte’ und ‚ursprüngliche’ sie sei nunmehr nur noch Bestandteil des Imaginären und des Politischen, nicht mehr aber ‚wirklich’. Dies gilt insbesondere für kalifornische Landschaft, und das nicht erst im Jahre 1964, als Marx seine schnell zu Berühmtheit gelangte Bestandsaufnahme publizierte. Verlust war immer, und wie das Versprechen aus Zukunft zu allen Zeiten abgeleitet wurde aus einer Vergangenheit, die nur als immer bereits ‚verlorene’ zum idealisierten Bild stilisiert werden konnte. Räders Kalifornien-Bilder auch als Selbst-Porträts einer fortgesetzten Auseinandersetzung mit dem Land zu sehen, liegt dabei nahe. Jedes von ihnen geht auf Ansichten zurück, die Räder Anfang der Achtziger Jahre als Austauschschüler in einer Highschool in Nordkalifornien gewann. Es war jene Zeit, in der in den USA das Pastorale als ideologisches Konstrukt wieder in den öffentlichen Raum Einzug hielt. Eine Ideologie, die nirgendwo suggestiver Ausdruck fand als unter dem früheren kalifornischen Gouverneur und damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan – wie in den provozierten Gegenbewegungen.

So sind diese persönlichen Blicke auch Lektüren von kollektiven Bildern, die Räders andere Heimat für ihn konstruieren. Seine Bildfindung ist ein mit Abstand fortgesetzter Reflexionsprozess über die Historia in Bildern, die sich dabei nur aus einem Optimismus gegenüber den Anschauungsobjekten erneuern kann. Räders Bilder revidieren nicht die vormals aufgenommenen, sie kommentieren und relativieren diese nicht nachträglich. Das unterscheidet sie von den vielen Bildern auch, mit denen amerikanische Fotografen die Verwandlung des Westens in einen dystopischen Raum melancholisch einzufangen suchten, zynisch kommentierten oder in einem Abgesang auf eine verlorene Vorstellung von Heimat nostalgisch verklärten. Räders Bilder fügen sie auch nicht zu einer ganz so einfachen Chronologie, wie es der Hinweis auf seine Aufenthalte dort suggeriert. Ein jedes zu seiner Zeit zeigt sich als ein Bild jenes vielperspektivischen Kaliforniens, das in vielen anderen Bildgeschichten seine Fortschreibung erfahren hat und noch erst wird. So dokumentiert der Fotograf, durchaus geschichtsbewusst, die eigene Ansichten als zeitbezogen, ohne sie so einfach zu historisieren. Über Geschichte zu verfügen, ist ein unmögliches Versprechen, so wie die Zukunft nie voraussehbar ist. Das erlaubt Räder durchaus eine Überhöhung seines Sujets, nicht ohne leicht spöttische Anklänge, die für alle Metaphysiker typisch bleiben.

Wie Terrence Malick in seinen bildmächtigen Filmen erneuert Räder mit seinen nicht weniger schönen Fotos eine soziale Beziehung zu der Landschaft, die er mit ihr ganz für sich eingegangen ist. Auf Zeit, und mit der Zeit, die als vergangen in die Zukunft weist. Das ist das Versprechen, das er als einer macht, der vertraut in der Fremde Standpunkte für seine Aufnahmen findet. Der sich mit einzelnen Orten in den Landschaften vertraut zeigt, ohne an ihnen heimisch zu sein. Als ein Ortsbetrachter, der sich nicht vollkommen eins weiß in der Umgebung, nimmt er in der Landschaft Bilder auf, die ihn als bildmachendes Subjekt über den in der Zeit eingenommenen Standpunkt bestimmen. Die Rekonfigurationen von Subjekten in der Landschaft, das Verhältnis von Einzelnem und Umgebung, wie Dorothea Lange und Edward Weston sie auf ihre Weise thematisierten, ist auch das Thema von Marc Räders Fotografien. Seine Bilder zeigen urbane und idyllische Landschaften. Menschen tauchen auf ihnen nur als Figuren, nämlich als visuelle Elemente, nicht hingegen als identifizierbare Personen auf. So distanziert werden sie gezeigt, dass der Betrachter sich kaum mit ihnen identifizieren und sich in deren Welt hineinversetzen könnte. Das zeigt ihm und ihr: Es sind immer andere Bilder, in denen das Subjekt sich – in die Landschaft versetzt – ein Bild von sich macht. Gerade in seinen Kalifornien-Bildern erneuert Räder sich selbst – und ihren Betrachtern – ein Versprechen, das mit der Entdeckung der Coast westlich des Westens durch die Kamera als eine unstillbare Sehnsucht existiert. Es handelt sich um jenes paradoxale Versprechen einer perpetuierten Zukünftigkeit, für das der Name California metonymisch steht: auf ein immer wieder Neues der Ort sein zu werden, an dem sich die Zukunft immer neu wiederholt. – Damit ist er nicht allein.

Alle Rechte beim Autor, 2012. Nils Plath, Berlin.
TZR Galerie Kai Brückner